„Mal angenommen, Corona ist vorbei“: Wie unsere soziale Interaktion sich verändert und was bleibt.
Seit Beginn der Corona-Pandemie, stehen Wissenschaft, Politik und Gesellschaft vor einem großen Fragezeichen. In der Medienlandschaft überschlagen sich die Nachrichten über neue Infektionszahlen und in Talkshows streiten sich die Menschen über die Rechtmäßigkeit der ergriffenen Maßnahmen durch die Regierung. Die einen wünschen sich mehr, die anderen weniger. Verschwörungstheoretiker gegen verzweifelte Intensivpfleger, Kleinkünstler gegen Großunternehmer, die ihren Arbeitnehmern jetzt auch noch ein Recht auf Homeoffice einräumen sollen. Das Coronavirus ist wahrlich ein gesellschaftlicher Spalter. Das Einzige, was alle Parteien vereint, ist wahrscheinlich, dass sie alle Menschen sind, deren Welt gehörig auf den Kopf gestellt wurde. Unabhängig vom öffentlichen Leben verändert das Virus nämlich auch unser Privatleben nachhaltig. Die Lockdowns und Einschränkungen, die angesichts der steigenden Infektionszahlen bitter nötig sind, treffen uns ins Mark. Aber wie verändert das Virus unsere soziale Interaktion und was wird davon letztendlich bleiben?
Mal angenommen Corona wäre morgen vorbei, was würdest du als erstes machen? Für diese Frage hat nach Lockdown, Lockdown light oder Einschränkungen, die wir uns aus moralischen Gründen selbst auferlegen, sicherlich jeder eine Antwort parat. Die Meisten von uns würden nicht ihrem alten Kontostand nachweinen oder sich kopflos in den unendlichen Konsum stürzen. Die Menschen sind sich einig. Noch vor der Lust zu reisen landet das Bedürfnis nach persönlichem Kontakt mit Mitmenschen, und das trotz vieler digitaler Alternativen. Es ist die Sehnsucht nach einem Schwätzchen mit den Nachbarn, Spieleabenden mit der Familie oder Partys mit Freunden und nächtelangen Gesprächen über Gott und die Welt, die uns umtreibt.
Im Moment bedeutet Jens Spahns sogenannte neue Normalität genau das Gegenteil, nämlich nichts anderes als besondere Hygiene, aber vor allem Social Distancing, zu Deutsch soziale Distanz zu errichten, sich von anderen abzuschotten und sich zu isolieren. Große Menschenmassen sind in diesen Zeiten zu meiden, Freunde und Familie soll man nur noch gewählt treffen und wenn dann ohne Hand geben oder umarmen, keine körperliche Nähe, wenn es geht sogar mit Maske. Große Emotionen sind da im Moment wohl eher Fehlanzeige. Menschen aus anderen Haushalten sind jetzt potenzielle Gefährder, man muss abwägen, mit wem das Risiko einer Infektion eingeht.
Die Politik startet inzwischen immer wieder Aufrufe: „Schützt die Risikogruppen und bleibt zu Hause!" Plötzlich haben nichtsystemrelevante Menschen viel Zeit mit sich zu verbringen, ein Rückzug in die eigenen vier Wände findet vermehrt statt. Distanz bedeutet in diesem Kontext aber vor allem Einsamkeit. Es fehlt der Ausgleich, eine gesunde Balance. Manche verlieren den Bezugspunkt, sind entkoppelt und der Tagesablauf verschwimmt. Wer kontrolliert das schon in Homeoffice und Homeschooling?
Dabei arbeiten wir alle gerade gegen unsere menschliche Natur. Der Mensch ist ein soziales Wesen, soziale Interaktion ein Urinstinkt. Allein durchs Leben zu gehen, die Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren ist also keine Dauerlösung. Meetings per Zoom sind für jeden erdenklichen Anlass angesetzt. Sommerfeste, Spieleabende und der heilige aller Abende geschehen jetzt über einen Bildschirm geographisch getrennt, aber über das LAN-Kabel verbunden. Eine rettende Alternative, die dennoch nur in gewissem Maße Abhilfe schaffen und nichts gänzlich ersetzen kann. Schließlich sitzt man letztendlich doch wieder nur alleine in seinem Zimmer und spricht in seinen Computer. Gegen ein so tiefes menschliches Bedürfnis anzukämpfen kostet aber auch viel Kraft. Es ist ermüdend und deswegen vielleicht auch der Grund, weshalb die Maßnahmen inzwischen nicht mehr so vortrefflich wirken.
Einen Vorteil gibt es aber doch. Man muss niemandem mehr nahe sein, dem man nicht nahe sein will. Das Virus ist die plausible Ausrede geworden. Bekannte von Bekannten trifft man gerade nicht,also keine Umarmung fremder Leute wegen Gruppenzwang, dem Chef kann man nur kurz den Ellbogen hinhalten. Ein Paradies für Introvertierte und alle, die bestimmte Leute meiden wollen.
Aber was wird langfristig bleiben? Was lernen wir daraus? Die neue Impfung gegen das Virus wird nicht nur für die Gesundheit, sondern auch in Hinsicht auf das Wohlbefinden der Nichtinfizierten der Retter sein. Das Social Distancing wird dann hoffentlich so schnell gehen, wie es gekommen ist! Was jetzt nur schwer einzuhalten ist, wird höchstwahrscheinlich wie eine Last von den Menschen abfallen. Viele werden diese dunkle Zeit verdrängen wollen. Wie schnell wir es nicht mehr komisch finden in Filmen große Menschenansammlungen zu sehen, geschweige denn Leute, die ohne Maske in einen Laden gehen, wird sich zeigen und wahrscheinlich auch individuell von statten gehen. Am Anfang wir es wohl auch ein wenig Überwindung kosten wieder in einem Club mit 200 anderen Menschen zu stehen und sich mit diesen die stickige Luft zu teilen. Auch das Händeschütteln könnte uns dann in eine Bredouille bringen. Gibt man sich jetzt schon wieder die Hand oder nicht? Eine Weile wird das Virus bestimmt noch als Ausrede hinhalten können. Den wirklich wichtigen Leuten wird man aber um den Hals fallen.
Tatsache ist auch, viele haben in dieser Zeit auch ein Stück zu sich selbst gefunden, sind individueller geworden und haben sich dadurch aber auch ein Stück von anderen wegbewegt. Allein zu sein ist zur Gewohnheit geworden. Aber wie es mit Gewohnheiten so ist, verfliegen diese auch schnell wieder und wir gewöhnen uns wieder um. Einige Dinge wird man aber nicht rückgängig machen können. Knicke in der Biographie wegen psychischer Erkrankungen, verlorene Freundschaften, einsame Tode. Gesamtgesellschaftlich sollte es dann aber wieder bergauf gehen und diese Phase im Nachhinein ihren Schrecken verlieren.
Umso wichtiger ist es, sich die Erinnerung, wie es ist, sich unter den 8 Milliarden Menschen dieser Erde allein zu fühlen, bewusst zu halten. Vor allem in der jungen Generation sind solche Gefühle schon teilweise Realität. Das Handy spielt eine sehr große Rolle unter den Jugendlichen, Interaktion findet häufig verstärkt von zuhause aus über Plattformen wie Whatsapp, Snapchat und Instagram statt. Sie stehen ständig miteinander in Kontakt und doch fühlen sie sich häufig allein. Über diese Generation sagt man auch schon, sie sei selbstbezogener, gleichzeitig aber auch depressiver als andere. Dieses Beispiel zeigt das Gefahrenpotenzial, das sich aus Social Distancing in der Realität ergibt. Zu viel sozialer Abstand spricht gegen das innerste Wesen eines Menschen, führt langfristig zu einem Ungleichgewicht und macht uns krank.
So ist diese Erfahrung ein Warnschuss. Sie zeigt uns die Grenzen des menschlichen Daseins auf, denn ein ähnliches Schicksal könnte uns schon bald ereilen, wenn es mit Globalisierung und Digitalisierung übertrieben wird. Die Individualisierung der Gesellschaft darf nicht so weit voranschreiten, dass wir vergessen, was unser innerstes Wesen ist. Soziale Medien und das Internet können echten menschlichen Kontakt und Gemeinschaft heute eben noch nicht ersetzen und dürfen deswegen auch keine höhere Priorität besitzen, jedenfalls noch nicht.
Ein Kommentar von Marieke Bruckmann, Q12